Wir starten den Dialog zwischen „Praxis im Schulalltag und forschungsnaher Beratung“. Der folgende Beitrag ist das Pendant zum ersten Teil der Reihe Schülertypologie, vom 17. Mai. 2011. Im Fokus der Anspruch eines differenzierenden und individualisierenden Unterrichtes zur Förderung der Lernkompetenz und die Realität eines lehrbuchgestützten Unterrichtssystems.

Wir haben gelernt, dass sich die Planung des Unterrichts an den individuellen Leistungen der Kinder orientieren soll. Das Kind ist der Mittelpunkt, an ihm richtet sich das Lernen aus. Im offenen Unterricht, bei dem jedes Kind seine individuellen Förderbänder durchläuft, kann man das auch bei 25+1 Individuen gut im Rahmen der Freiarbeit umsetzen. Das erfordert den Einsatz vielfältigster Materialien, welche die Kinder anregen, es selbst zu tun. Diese Materialien sollten Kinder auf ihrem jeweiligen Entwicklungsstand abholen, kurzfristige Erfolgsrückmeldungen durch Selbstkontrolle bieten und inhaltlich aufeinander aufbauen. Freie Arbeit mit individualisierenden Lernmaterialien ermöglicht ein Lernen auf unterschiedlichsten Lernkanälen, motiviert die Kinder durch die enthaltenen Freiheiten (Was arbeite ich mit wem wo?), fördert die Toleranz und das soziale Miteinander (Auf wen lasse ich mich ein, helfe ich oder lasse ich mir helfen?) und entwickelt die Selbstverantwortlichkeit für das eigene Tun (Kontrolliere ich ernsthaft? Führe ich auch Aufgaben zu Ende, die mir unangenehm werden? Wähle ich sogar Aufgaben, die mich in den Bereichen trainieren, in denen ich noch üben muss?)

Und die Lehrkraft? Sie gewinnt Zeit! Zeit für ihre Kinder, für die Lernbeobachtung und Lernbegleitung, für die Kümmernisse und Sorgen ihrer Schützlinge und auch für die Kontrolle ihrer Lernergebnisse. Und zwar immer mit dem Kind, dessen Arbeitsergebnisse gerade besprochen werden.

In diesem Durchgang stellt sich die Situation jedoch anders für mich dar. Es bleibt zwar bei 25+1 Individuen, doch Bücher und Arbeitshefte erfordern einen Gleichschritt der Kinder, bündeln all ihre Kraft und ihren Arbeitseinsatz. Für die tägliche Freiarbeitszeit bleibt schlicht keine Zeit. Getreu der Maxime, kein Kind auf dem Weg durch das Leistungspensum zu verlieren, orientiere ich mich bei der Organisation des täglichen Pensums an den Leistungen der Durchschnittsschüler, kümmere ich mich intensiv um die Gruppe der langsameren Lerner und bemühe mich, gleichzeitig die individuelle Förderung der schnellen Lerner durch innere Differenzierung und Fordermaterialien zu gewährleisten.

Lasse ich heute, nach gut 10 Schulmonaten meine Erstklässler an meinem geistigen Auge vorüberziehen, so lassen sich folgende Lerntypen und Leistungsgruppen identifizieren:

  • Da sind die Kämpfer. Das sind diejenigen Schüler, denen es schwer fällt, das Pensum zu erfüllen. Sie kämpfen hart und ackern fleißig. Sie brauchen viel individuelle Zuwendung und häufig weitere Erläuterungen. Mit viel Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer erreichen sie das Ziel. Freude am Lernen bleibt bei diesem mühsamen Weg noch weitgehend auf der Strecke. Motiviert werden die fleißigen Arbeiter mit viel Lob.
  • Eine andere Gruppe eher langsamerer Lerner sind die der geschickten Vermeider. Sie pfeifen auf mein Lob. Diese selbstbewussten Kinder sehen auch keineswegs eine Notwendigkeit darin, eventuelle Defizite durch erhöhte Anstrengungsbereitschaft zu kompensieren. Sie gestalten sich den Vormittag anderweitig. Einige lassen still und freundlich vor sich hin träumend die Zeit an sich vorbeifließen. Andere ärgern gerne ihre Mitschüler und tragen viele Beiträge zum Unterricht bei, welche nicht im Ansatz etwas mit den Lerninhalten zu tun haben. Wieder andere Kinder gehen gerne zur Toilette und nutzen die Zeit für einen Spaziergang durch das Haus. Gerne werden auch Türme aus Büchern gebaut und es gibt zu jeder Zeit genug Anlässe zu vielen privaten Gesprächen.

    Wie kreativ auch immer diese Kinder Unterricht und Anstrengung vermeiden, ihnen allen ist gemein, dass sie den Sinn des Lernens noch nicht erkannt haben. Da sie nur geringe Lernzuwächse verzeichnen, haben sie noch nicht erlebt, wirklich stolz auf sich selbst zu sein und Freude aus dem Lernen und dem eigenen Lernzuwachs zu schöpfen.

  • Angenehm ist die Gruppe der „Durchschnittsschüler“. Diese arbeiten brav ihr Pensum ab und es fällt ihnen nicht zu schwer. Manche machen dies mit ausgeprägter Liebe zum Detail. Sie malen alles bunt und fein aus. Die anderen tun, was getan werden muss, denn dazu sind sie ja schließlich gekommen. Der Lernprozess funktioniert reibungslos, ohne jegliche emotionale Betroffenheit.
  • In jeder Lerngruppe gibt es die Blitzlerner. Sie würden auch ohne die Lehrkraft Lesen und Schreiben lernen. Sie sind klug, das Lernen fällt ihnen leicht und sie haben verinnerlicht, dass sie auch ohne jede Anstrengung blitzschnell ihr Pensum erledigen. Doch auch sie sind erfolgreiche Vermeider. Denn es reicht ihnen, auch ohne weitere Bemühungen ins Ziel zu gelangen. Sie haben sich noch nie wirklich angestrengt und wollen auch gar nicht damit anfangen. Fordermaterial empfinden sie nicht als reizvoll, sondern als lästig, ja fast schon als Strafe.
  • Unter den Blitzlernern gibt es natürlich auch diejenigen Kinder, welche sich mit Freude nach oben differenzieren lassen und mit ihrem Vorbild das Arbeitsverhalten einer Klassengemeinschaft positiv beeinflussen. In meinen bisherigen Durchgängen, in denen ich lehrbuchunabhängig arbeiten konnte, war diese Gruppe stets gut besetzt. Aktuell gibt es in meiner Lerngruppe jedoch nur ein Kind, welches sich wirklich freudig fordern lässt.
  • Abschließend gibt es noch diejenigen Kinder, die tatsächlich noch nicht die Reife entwickelt haben, sich den Anforderungen eines „regulären“ Grundschultags zu stellen. Zwei meiner Schüler passen in dieses Bild. Sie verweigern sich komplett und bündeln die Kraft wechselnder Integrationshelferinnen.

Fazit, die Arbeitshaltung meiner Kinder spiegelt unser didaktisch-methodisches Dilemma. Ein individualisierender Unterricht über differenzierende Förderbänder lässt sich auf Grund der Stofffülle der zu nutzenden Standardlehrwerke nicht realisieren. Diesen Werken fehlt es jedoch schlicht an Methodenvielfalt und innerer Differenzierung, um 25+ 1 individuellen Lernern gerecht zu werden. Die Konsequenz für den alltäglichen Unterricht lautet daher, einer Gruppe von Normallernern, einer Gruppe von Überforderten und einer Gruppe von Unterforderten im Rahmen des verordneten Gleichschritts eine Gangart zu bieten, auf der sich alle gut entwickeln können. Da die Kinder bisher noch nicht erfahren haben, Freude an ihrem persönlichen Lernzuwachs zu erleben, besteht die Kunst des Unterrichtens zu einem Großteil darin, permanent Buschbrände unter- oder überforderter Kinder zu löschen, die das Potential für ausgeprägte Lauffeuer haben.

Auf den Punkt gebracht: Ich teile von Herzen die Forderung, dass jedes Kind entsprechend seiner Potentiale zu fördern und zu fordern ist. Ich bin überzeugt, dass das „Lernen lernen“ also das Anbahnen von Lernkompetenz zu den wichtigsten Aufgaben des Schulsystems zu zählen ist. Hierfür ist nach meiner Überzeugung von besonderer Wichtigkeit, dass die Kinder Lernen mit positiven „Gefühlen“ und „Erfahrungen“ verbinden. Nur so kann die Haltung bezüglich Lernens und die Bereitschaft, dafür Kraft und Energie einzusetzen langfristig gesichert werden. Die Konsequenz ist, dass im Lernprozess wirklich kein Kind verloren gehen darf und deshalb die individuelle Förderung eines jeden einzelnen Kindes die Basis unserer Arbeit sein muss. Aber bitte befähigt uns Lehrer dazu, solch einen Unterricht zu erteilen und gebt uns dafür das richtige Werkzeug in die Hand.